Die Geschichtswerkstatt Rosenheim beschäftigt sich nach dem Prinzip der „Geschichte von unten“ mit der Erforschung und Darstellung der lokalen Geschichte
Rosenheims Rolle müsste intensiver betrachten werden
Heute (09.11.2023) gab es vielerorts zahlreiche Berichte und Veranstaltungen zu den Ereignissen vor hundert Jahren, welche als „Hitlerputsch“ in die Geschichtsbücher eingingen. Der Umsturzversuch war weder von Hitler alleine geplant noch auf München beschränkt. Im Raum Rosenheim wurden die Ereignisse allerdings verhältnismäßig wenig thematisiert, es gab unseres Wissens dieses Jahr keine einzige Veranstaltung zur Rolle Rosenheims im „Hitler-Putsch“. Das ist ein Problem, denn zu erforschen/berichten gäbe es einiges:
Nicht nur das Telegrafenamt Rosenheim wurde im Zuge des Münchner Putschversuches von NSDAP Anhänger besetzt. Manche Quellen sprechen auch von Inn- und Mangfallbrücke, das Postamt und der Bahnhof (Miesbeck, 178). In Rosenheim agierten an diesem Tag mehrere rechtsextreme Gruppen (u.a. die NSDAP ) unter der Leitung des Bundes „Bayern und Reich“, es wurden „am Morgen des 9. November innerhalb kürzester Zeit 3000 bis 5000 putschbereite Mann des Regiments ‚Chiemgau‘ zusammengezogen“ (Miesbeck, 175f.). Auch wurden in Rosenheim Sozialisten und Kommunisten verhaftet (u.a. Karl Göpfert), nicht von den Nazis sondern von Bezirksamtsvorstand Wilhelm Roth. Peter Miesbeck schreibt zu den Ereignissen in Rosenheim, hier „zeigte sich bereits im Kern die für die Machtergreifung 1933 dann auch so wirkungs- wie unheilvolle Verknüpfung staatlicher Exekutivorgane mit dem ‚legalisierten‘ Terror der SA“ (Miesbeck, 179). Nach dem Scheitern des Putsches in München zogen viele Nazis Richtung Rosenheim. „Noch am 13. November demonstrierten vorwiegend auswärtige Hitleranhänger in Rosenheim abends zwischen 8 und 9 Uhr (…) sangen Hitlerlieder, brachten Heilrufe auf Hitler und Ludendorf aus und schrien ‚nieder mit Kahr‘.“(Miesbeck, 180)
Bild: Der Rosenheimer Anzeiger (09.11.1923) berichtet wohlwollend über den Putschversuch
Der Hitlerputsch und die Rolle Rosenheims ist ein Thema das bisher weder von klassischen Institutionen/Organisationen noch von uns adäquat aufgegriffen und aufgearbeitet wurde. Wer sich mehr mit den Ereignissen 1923 in Bayern befassen will, dem können wir den Audiomitschnitt des Vortrag von Dr. Sebastian Zehetmair zum Thema „Im Hinterland der Gegenrevolution: Die Arbeiter:innenbewegung in der Ordnungszelle Bayern“ empfehlen. Diesen Vortrag organisierten wir am 22.06.2023 im Z – linkes Zentrum in Selbstverwaltung und es gibt ihn hier zum Nachhören: https://audiomack.com/geschichtswerkstatt/song/ordnungszelle-bayern
100 Jahre nach dem Mord an den Gewerkschafter Georg Ott:
Antifaschistische Stadtführung am Samstag (29.07.23) in Rosenheim
Am 29. Juli 1923 stürmten bewaffnete extrem rechte Akteure aus dem Spektrum der völkisch-nationalistischen „vaterländischen Verbände“ das Rosenheimer Gewerkschaftshaus, verprügelten die anwesenden Arbeiter:innen und ermordeten den Sozialdemokraten Georg Ott. Hundert Jahre später, am Samstag, den 29. Juni 2023, findet in Gedenken an diesen rechten Mord in Rosenheim eine antifaschistische Stadtführung statt.
Mit einer Stadtführung wollen die „Geschichtswerkstatt Rosenheim“ und die „Initiative Erinnerungskultur – Stolpersteine für Rosenheim“ am Samstag (29.07.2023) an Georg Ott und andere Opfer des deutschen Faschismus erinnern. Die Stadtführung beginnt um 11:00 Uhr am Rosenheimer Salzstadel. Nach einer Einführung in die Ereignisse des „Antifaschismustag“ 1923 durch die Geschichtswerkstatt präsentiert die Stolpersteininitiative ihre neuen Erkenntnisse zu den Sinti-Brüdern Robert und Johann Reinhardt, die bis 1941 am Salzstadel 3 lebten, ehe sie ins KZ deportiert wurden. Von Salzstadel geht es über die Kaiserstraße (ehem. Gewerkschaftshaus) zum Ludwigsplatz. Mit den Erzählungen über die Schicksale der Familien Westheimer (Ludwigsplatz 19) und Kohn (Ludwigsplatz 9) wird hier beispielhaft an die in Rosenheim lebenden Jüd:innen erinnert. Über die Innstraße (Innstraße 22 – Wohnort Familie Wiener; Innstraße 41 – Wohnort von Georg Ott) geht es zu dem nach dem Nationalsozialisten benannten Hermann-Gröber Weg, an welchem kritisch die Straßenbenennung und Erinnerungspolitik in Rosenheim betrachtet wird. Den thematischen Abschluss der historischen Führung bildet der ehemalige Kiosk des Antifaschisten Johann Vogl (ermordet am 27.03.1938 im KZ Dachau).
Die Stadtführung im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Antifaschismus bleibt notwendig“ ist kostenlos. Eine Anmeldung ist nicht erforderlich. Weitere Informationen gibt es im Internet unterhttps://antifaschismusbleibtnotwendig.rosenheim.social/
Fast zwei Jahrzehnte lang begleiteten die beiden Filmemacher:innen den 2018 verstorbenen Widerstandskämpfer und KZ-Überlebenden Martin Löwenberg mit der Kamera und suchten im Gespräch mit ihm und dem gemeinsamen Freund Konstantin Wecker nach Antworten auf die Fragen: Woher nahm dieser Mann in seinem Alter das Verständnis für die praktische Tat, das Handeln, die jugendliche Ungeduld? Woher kommen seine Kraft und sein Mut? Wie entstand seine Unbeugsamkeit gegenüber staatlicher Willkür und Autoritäten?
Als Jugendboxer trainierte Martin Löwenberg im Breslauer Postsportverein Stephan und verprügelte in der Freizeit mit seinen Freunden mehrfach den Streifendienst der Hitlerjugend. Sie wehrten sich gegen die zunehmende Repression und Verfolgung unangepasster Jugendlicher. Später arbeitete er mit seinem älteren Bruder Fred in einem organisierten Widerstandsnetzwerk und unterstützte osteuropäische Zwangsarbeiter mit Brotmarken und Informationen über den Kriegsverlauf. Im Mai 1944 nahm ihn die Gestapo fest. Nach tagelangen Verhören wurde er ins KZ Flossenbürg deportiert. In den KZ-Außenlagern Thil und Leitmeritz musste Martin Löwenberg bis zu seiner Befreiung selbst Zwangsarbeit in unterirdischen Stollen leisten. Historische Foto- und Filmdokumente zu seinen Erzählungen werden dabei mit den Aufnahmen der aktuellen Topografie dieser Handlungsorte konfrontiert.
Mit der Biografie Martin Löwenbergs schlägt der Film einen Bogen über hundert Jahre Zeitgeschichte. Er dokumentiert auch das politische Engagement von Löwenberg nach 1945 gegen die Remilitarisierung der Bundesrepublik, seine Verfolgung als Kommunist genauso wie seine Unterstützung von Roma:nja-Flüchtlingen in der KZ-Gedenkstätte Dachau, die Verhinderung von Naziaufmärschen oder seinen Kampf für die Entschädigung von ehemaligen Zwangsarbeiter:innen. Durch die Recherchen in deutschen und polnischen Archiven ist es gelungen, bisher unbekanntes Filmmaterial zu finden, das den Protagonisten bei historischen Ereignissen in Aktion zeigt wie z.B. bei der Beerdigung von Philipp Müller 1952, dem ersten von der Polizei erschossenen Demonstranten der jungen Bundesrepublik.
Diese subjektive Protestgeschichte wird verknüpft mit Interviews und historischen Bildmaterialien (Fotos und Filme von 1909 bis 2011) aus Wroclaw, früher Breslau, Dachau, Flossenbürg, Essen und München zu einer filmischen Zeitreise über hundert Jahre. Martin Löwenberg spricht von seinen Visionen damals nach der Befreiung aus dem KZ und 65 Jahre später. Er entwickelt im Film eine besondere Form der Reflektion von Geschichte; dabei verschränken sich die Ebenen von Zeit und Inhalt in Erzählsträngen, die die Vergangenheit in der Gegenwart präsent werden lassen.
Ein Filmgespräch mit den beiden Filmemacher:innen eröffnet um 20:30 Uhr den von der Geschichtswerkstatt Rosenheim in Kooperation mit dem VVN – BdA und dem Kurt-Eisner-Verein / Rosa Luxemburg Stiftung Bayern organisierten Abend. Mit Einbruch der Dunkelheit (ca. 21:30) Uhr wird dann der Dokumentarfilm als OpenAir Kino im Innenhof der Rosenheimer Innstr. 45a gezeigt. Bei schlechtem Wetter findet die Filmvorführung im linken Zentrum Z statt. Der Eintritt ist frei. Weitere Informationen gibt es auf der Homepage der Veranstaltungsreihe:
Heute (26.04.2023) gedachte die Initiative Erinnerungskultur (Ankündigung) an 28 Rosenheimer Kommunisten, welche vor 90 Jahren (am 26.04.1933) mit dem ersten Gefangenentransport aus Rosenheim in das KZ Dachau verschleppt wurden.
Bildquelle: https://twitter.com/PresseMueller
Wir dokumentieren im Folgenden die heutige (26.04.2023) Ansprache von Andreas Salomon bei der Gedenkfeier:
Aber was geschah vor hundert Jahren? Wir von der Geschichtswerkstatt haben uns auf eine Spurensuche begeben. Wer war Georg Ott? Wie war die politische Lage 1923? Was geschah am 29. Juli 1923, dem Antifaschistentag, in Rosenheim? Wie wurde der Fall aufgearbeitet? Was waren die Folgen?
Vieles konnten wir nur bruchstückhaft rekonstruieren. Aber das was wir herausgefunden haben, haben wir in dem Artikel „Georg Ott und der Antifaschistentag 1923 in Rosenheim: Ein fast vergessener rechter Mord“ zusammengefasst:
Im Rahmen der Vortragsreihe „Demokratie im Abwehrmodus – Bayern im Krisenjahr 1923“ der Staatlichen Archive Bayerns referiert am 9. Februar 2023 (19 Uhr)Prof. Dr. Marita Krauss (Universität Augsburg).
Thema des Vortrags ist:
Der militarisierte Friede. Die Rolle von Polizei, Reichswehr und Kampfverbänden in der bayerischen Politik und Gesellschaft
Der Vortrag finden im Hörsaal des Bayerischen Hauptstaatsarchivs, Schönfeldstraße 5, 80539 München, statt, eine Anmeldung ist nicht erforderlich.
2. März 2023, 19 Uhr Gesellschaft, Staat, Adel und vormaliges Königshaus: Die alten Eliten als Stützen der Demokratie in Bayern? Referent: Prof. Dr. Dieter J. Weiß, LMU München
20. April 2023, 19 Uhr Medienpluralismus und Republikschutz Referent: Prof. Dr. Peter Hoeres, Julius-Maximilians-Universität Würzburg
4. Mai 2023, 19 Uhr München, 1. Mai 1923 – Der Kampf um die Straße, die Köpfe, die Demokratie: Die konservative Republik zwischen Schutz und Putsch Referent: Prof. Dr. Hermann Rumschöttel, Universität der Bundeswehr München
14. Juni 2023, 19 Uhr (Mittwoch) Die Kirchen und der frühe Nationalsozialismus in München Referent: Prof. Dr. Klaus Unterburger, LMU München
6. Juli 2023, 19 Uhr Die „Inflation in der Mitte“: Wirtschaftskrise, Inflationstrauma und die bayerische Gesellschaft Referent: Prof. Dr. Bernhard Löffler, Universität Regensburg
3. August 2023, 19 Uhr Gesellschaft, Staat, Parteien und Verfassung Referent: Prof. Dr. Stefan Korioth, LMU München
14. September 2023, 19 Uhr Demokratie im Ausnahmezustand: Generalstaatskommissar Gustav Ritter von Kahr im Spannungsfeld Bayern, Reich, Entente Referent: Prof. Dr. Ferdinand Kramer, LMU München
5. Oktober 2023, 19 Uhr Der Bayerische Ausnahmezustand und die Ausweisung von „Ostjuden“ im Oktober 1923 Referent: Prof. Dr. Martin Geyer, LMU München
9. November 2023, 19 Uhr Der Hitler-Ludendorff-Putsch als Herausforderung der Demokratie? Wirkung, Deutung, historische Einordnung Referent: Prof. Dr. Andreas Wirsching, Institut für Zeitgeschichte München-Berlin
7. Dezember 2023, 19 Uhr Auf dem rechten Auge blind? Vom Leviné-Prozess zum Hitler-Prozess Referent: Prof. Dr. Arnd Koch, Universität Augsburg
Am 9. November 2022, gedenkt die „Initiative Erinnerungskultur –Stolpersteine für Rosenheim“ mit einem Putzen der zwölf Rosenheimer Stolpersteinen, dem 84. Jahrestag der „Reichspogromnacht“. Beginn ist um 17 Uhr vor der Münchener Str. 28 in Rosenheim. Stilles Gedenken gibt es auch an den beiden Orten des Novemberpogroms in Rosenheim, Gillitzerstr. 1 und Ludwigsplatz 14.
Viele der jüdischen Rosenheimer, die von den Nationalsozialisten verfolgt und ermordet wurden, waren Inhaber von Bekleidungsgeschäften. Die „Initiative Erinnerungskultur –Stolpersteine für Rosenheim“möchten an ihr Schicksal und an das ihrer Familien erinnern. Beispielhaft hat die Initiative die Geschichten der Familien Obernbreit und Westheimer, deren Geschäfte in der Pogromnacht 1938 verwüstet wurden recherchiert.
Im folgenden dokumentieren wir die Ergebnisse der „Initiative Erinnerungskultur –Stolpersteine für Rosenheim“:
Adolf Westheimer wurde 1883 in Großreicholzheim (Baden-Württemberg) als Sohn eines Viehhändlers geboren. Er war in Frankfurt als Kaufmann tätig. Dort heiratete er 1920 Erna Alice Simon, geboren 1898 in Offenbach. 1921 wurde ihr einziger Sohn Hans Ludwig in Frankfurt geboren. 1931 zog die Familie nach Rosenheim, wo Adolf Westheimer sein Konfektionsgeschäft am Ludwigsplatz 19 eröffnete. Hans Ludwig besuchte das Gymnasium. Nach der Machtübernahme durch die Nazis 1933 nahmen die Anfeindungen gegen Juden zu. Trotzdem konnte die Familie ihr Geschäft halten, bis es in der Nacht zum 10. November 1938 von den Nazis zerstört wurde. Mit Beilen wurden Regale, Öfen, Registrierkassen, Beleuchtungskörper und Schaufenster zerschlagen, die Waren herausgerissen und auf die Straße geworfen. Bettfedern wurden aus der Umhüllung getrennt, Stoffe, Kurzwaren und Wäsche unbrauchbar gemacht. Passanten und Nachbarn nutzten die günstige Gelegenheit, sich noch unversehrte Waren anzueignen. Westheimer meldete sein Geschäft am 30.11.1938 ab. Am 15. April 1939 gelang der Familiedie Flucht nach New York.
Familie Obernbreit
Der Kaufmann Samuel Obernbreit, 1864 in Pressburg geboren, lebte mit seiner Frau Rosalie geb. Heilbronner, 1866 in Fellheim geboren, seit 1894 in Rosenheim. Er führte ein Konfektionsgeschäft am Max-Josefs-Platz und ein Filialgeschäft in der Gillitzerstraße. Ihre Kinder Adele und Leopold wurden 1895 bzw. 1899 in Rosenheim geboren. Während Adele als Hausangestellte tätig war, wurde Leopold ebenfalls Kaufmann. Er ging1921 nach Berlin, wo er sich als Komponist als „Leopold Breiten“ einen Namen machte. Er überlebte die Shoah und starb 1978 in Berlin.
„Halb acht Uhr morgens lagen in der Gillitzerstr., nahe Bäckerei Buchecker, Nähfadenspulen, Zwirn, Stopfgarn und anderes auf der Straße verstreut herum. Wir Buben dachten, dass da eingebrochen worden ist. Wir erfuhren dann, dass das Geschäft von SA-Leuten geplündert worden ist. Weil das Geschäft einem Juden gehörte.“
Nach den Verwüstungen durch die Rosenheimer SA in der „Reichskristallnacht“ gab Samuel Obernbreit noch am 10.11. 1938 sein Geschäft auf. Er starb am 27.11.1939 in Rosenheim. Seine Witwe und ihre Tochter lebten unter schlechten Bedingungen weiter in Rosenheim; nach Aussage eines Zeitzeugen mussten sie in der Papierfabrik Niedermayr Tüten kleben. Am 28. April 1942 wurden sie von der Gestapo ins Barackenlager Milbertshofen (München, Knorrstr. 148) verschleppt. Von dort aus wurde Adele Obernbreit am 04.04.1942 nach Piaski deportiert und ermordet. Ihre Mutter wurde am 03.07.1942 nach Theresienstadt deportiert, wo sie nach wenigen Wochen am 24.08.1942 starb. (Quellen: Stadtarchiv Rosenheim, Stadtarchiv München; private Chronik; Foto Familienbesitz)
Anfang der neunziger Jahre gab es in ganz Deutschland eine Welle rechter Gewalt. In diesen Tagen (Mitte August 2022) wird vielfach an die mehrtägigen Pogrome vor 30 Jahren in Rostock-Lichtenhagen erinnert. Tagelang griffen dort Ende August 1992 hunderte von Rassist:innen und Neonazis mit Steinen und Molotow-Cocktails Häuser an, in denen Geflüchtete und ehemalige Vertragsarbeiter:innen aus Vietnam lebten und setzten das „Sonnenblumenhaus“ in Brand [1]. Knapp 120 Menschen entkamen den Flammen in letzter Minute über das Dach, die Polizei schaute tatenlos zu, tausende Bürger:innen jubelten bei einer „Volksfestatmosphäre“ [2] dem rechten Mob zu, das Fernsehen übertrug live.
Neben den allgemein bekannten rassistischen Gewaltexzesse in Hoyerswerda, Rostock, Mölln, Solingen, gibt es zahlreiche weitere, oft weniger bekannte Beispiele für rassistische Angriffe in den 1990er Jahren. Zu Unrecht werden diese oft als ein ostdeutsches Phänomen dargestellt: Allein in Bayern wurden 1992 von staatlichen Stellen mindestens 29 Brand- und Sprengstoffanschläge mit „fremdenfeindlichem Hintergrund“ registriert [3]. In diesem Kontext betrachtet werden muss auch ein Sprengstoffanschlag vom 12. Oktober 1992 in Kolbermoor (Landkreis Rosenheim) [4], der hier wieder in Erinnerung gerufen werden soll.
Am Dienstag, den 13. Oktober 1992 berichtete das Oberbayerische Volksblatt (ovb) über den Kolbermoorer Sprengstoffanschlag vom 12.10.1992:
„Auf die Asylbewerber-unterkunft in Kolbermoor ist in der Nacht zum Montag mit einer Rohrbombe ein Sprengstoffanschlag verübt worden. Verletzt wurde niemand. Die Polizei vermutet politische Motive als Hinter-grund, am Tatort wurden Hetzschriften gegen Asylbe-werber gefunden. Auch in Bad Aibling und Heufeldmühle explodierten Rohrbomben des gleichen Typs in unmittelbarer Nähe von Asylbewerber-heimen. (…)“
Der Anschlag, bei dessen Detonation die Glasfüllung der Eingangstür zerbarst, ereignetet sich in der Nacht (ca. 1:00 Uhr). Erst am nächsten Morgen wurde die Polizei durch die Hausmeisterin informiert, da sich die Bewohner:innen aus Angst, erschossen zu werden, nicht aus dem Haus trauten und keiner der Nachbar:innen die Polizei rief. Obwohl seit langem (u.a. von der „Sozialbetreuerin“) gefordert, gab es in der Geflüchtetenunterkunft (dem ehemaligen Hotel Wendelstein in der Kolbermoorer Brückenstraße 28) kein Notruftelefon. Die 66 zu dem Zeitpunkt in der Unterkunft lebenden Menschen konnten somit nur tagsüber vom Büro der Sozialbetreuerin aus telefonieren.
Bei den von den Tätern hinterlassenen Hetzschriften handelte es sich um die rassistischen Flugblätter „Der Asylbetrüger in Deutschland“, welche schon länger bundesweit und auch im Landkreis Rosenheim verteilt wurden. Die beiden zum Tatzeitpunkt 20 und 22 Jahre alten Täter Martin K. und Bernd M. aus Kolbermoor wurden zwei Tage nach dem Anschlag gefasst. Da in der Werkstatt des Haupttäters, einem damals 22-jährigen „Postarbeiter“, weitere „Rohrstücke gleicher Bauart“ und Schwarzpulver gefunden wurden, ging die Polizei von weiteren geplanten Anschlägen aus [5]. Auch mehrere Exemplare des am Tatort zurückgelassenen extrem rechten Flugblattes wurden gefunden. Bei seinem Komplizen, einem in derselben Straße wohnenden 20-jährigen Einzelhandelskaufmann, welcher bei der Bundeswehr Zeitsoldat werden wollte, stellte die Polizei „Gewehrpatronen, Schrotmunition und pyrotechnische Gegenstände“ sicher.
Bei dem 1993 stattfinden Gerichtsprozess vor dem Jugendschöffengericht Traunstein kamen die Täter jedoch glimpflich, mit einer Bewährungsstrafe davon. Richter Alois Söldner sah den Anschlag „nicht als politische Tat“ an. Als Bewährungsauflage sprach das Gericht lediglich 40 Stunden gemeinnützige Arbeit, beziehungsweise eine Geldstrafe von 1000 Euro aus. Die Täter beantworteten vor Gericht Fragen zu ihrer politischen Einstellung sehr verharmlosend. Das extrem rechte Hetzplakat „Das Boot ist voll“ habe er „nur wegen der guten Aufmachung“ im Keller aufgehängt, sagte der zum Prozesszeitpunkt 23-Jährige. Und sein 20-jähriger Komplize wollte das Hitlerbild „nur kurz“ im Auto gehabt haben. Der Richter glaubte der Schilderung, nach der die Tat in „bierseeliger Laune“ nach mehreren Diskobesuchen begangen worden sei, auch wenn es mehrere Anzeichen für einen geplanten Anschlag gab: Das Schwarzpulver und die Lunte hatten sich die Kolbermoorer bereits im August in Kufstein gekauft und die Rohrbombe wurde ca. zwei Wochen vor der Tat an der Mangfall getestet. Welche Gefahr von dieser Bombe ausging, verdeutlichten die vor Gericht geladenen Expert:innen. Die rasierklingenscharfen umherfliegenden Metallsplitter [6] hätten den Tod von Menschen bedeuten können. Die Verteidiger der Angeklagten argumentierten mit angeblich „jugendtypischen Zügen“ der Tat und stellten diese als „minder schweren Fall wegen der allgemeinen Grundstimmung in der Bevölkerung“ dar.[7]
Dieser von der Verteidigung als „allgemeine Grundstimmung“ bezeichnete rassistische Normalzustand zeigte sich auch anderweitig in der Region Rosenheim deutlich: Die extrem rechten Republikaner (welche heute bundesweit fast keine Bedeutung mehr haben, aber in Rosenheim auch 2022 noch immer im Stadtrat sitzen [8]) sorgten bei der Europawahl 1989 mit einem überdurchschnittlichem Ergebnis für Aufsehen. Bundesweit erhielt die rassistische Partei rund 7% der Stimmen, im Landkreis Rosenheim jedoch 19,2% in der Stadt Rosenheim 22,1% [9] und in Kolbermoor sogar 29,1%. Auch rechte Anschläge gab es in der Region bereits vor dem Kolbermoorer Bombenattentat. In einem im Januar 1992 von „Rosenheimer AntifaschistInnen und UnterstützerInnen der Flüchtlinge“ verteilten Flugblatt heißt es:
„Am 1. Januar 1992 wurde gegen 3 Uhr auf das Flüchtlingsheim am Rosenheimer Bahnhof ein Brandanschlag verübt. Im Erdgeschoß wurde eine Scheibe eingeschlagen, und brennbare Flüssigkeit im Inneren des Hauses entzündet. Die BewohnerInnen bemerkten zu ihrem Glück die Flammen noch rechtzeitig und konnten sie löschen. Im Falle eines Übergreifens des Brandes auf das ganze Haus, wäre schnelle Hilfe nicht möglich gewesen, denn in diesem Flüchtlingsheim gibt es keinen Telefonanschluß. So hätte es Verletzte oder gar Tote geben können. Dies nahmen die Täter bewußt in Kauf! Das ist nicht der erste Anschlag auf ein Flüchtlingsheim in Rosenheim. Bereits im Oktober 91 schoß ein Unbekannter mit einem Luftgewehr auf ein Fenster im ersten Stock eines Heimes. Diesen Anschlag entschuldigte die Polizeidirektion Rosenheim damit, daß es möglicherweise ein verärgerter Nachbar war, dem die Musik zu laut gewesen ist. So werden rassistische Angriffe in Rosenheim von der Polizeiführung verharmlost und als Normalität dargestellt.“
Das Flugblatt endet mit den Worten: „Wir stellen uns dem rassistischen Alltag entgegen! Wir wehren uns gemeinsam gegen die faschistischen Angriffe auf AusländerInnen! KAMPF DEM RASSISMUS! SCHAUT NICHT WEG, GREIFT EIN!“
Eine Aufforderung die leider auch heute, 30 Jahre später, immer noch aktuell ist. Denn die rechte und rassistische Gewalt war nie weg, weder vor den derzeit vieldiskutierten „Baseballschlägerjahren“, noch danach. Das Oktoberfestattentat, die Morde des sogenannten NSU, Hanau, München, Halle und Idar-Oberstein sind nur einige überregional bekannte Beispiele.
Aber auch lokal gab es weitere rechte Anschläge. Erwähnt sei zum Beispiel der Brandanschlag auf die geplante Wohncontainerunterkunft für Geflüchtete 2015 in Bad Aibling, der Brandanschlag auf eine ebenfalls noch unbewohnte Containerunterkunft für Geflüchtete 2016 in Soyen oder die Anschlagserie auf die bewohnte Geflüchtetenunterkunft 2018 in Nussdorf. Gewaltbereitschaft zeigt sich auch ganz aktuell im Umfeld der Bewegung der Pandemieleugner:innen.
Übergriffe sowohl gegen potentielle Gegendemonstrant:innen [10], als auch gegen Journalist:innen [11], gab es Anfang des Jahres auf den unangemeldeten Demonstrationen (sogenannte Montagsspaziergänge) der Pandemieleugner:innen in Rosenheim. Für die kommenden Monate kündigt die verschwörungsideologische rechte Szene einen „heißen Herbst“ an. Dies zeigt, auch im Raum Rosenheim gibt es weiter menschenfeindliche Haltungen und rechte Gewalt. Die für Oktober vom „Bündnis gegen rechte Hetze“ geplante Veranstaltungsreihe „Antifaschismus/Antirassismus bleibt notwendig“ [12] ist deshalb aus Sicht der Geschichtswerkstatt Rosenheim ein notwendiges und wichtiges Zeichen.
1 Die tagelangen Straßenschlachten ereigneten sich in der Zeit vom 22. bis 26./27. August 1992. Höhepunkt war der Angriff auf einen Wohnblock in der Mecklenburgischen Straße 1 bis 12, das „Sonnenblumenhaus“. In dem Hochhaus waren die „Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber“ (ZAST) und ein Wohnheim für vietnamesische Vertragsarbeiter:innen untergebracht.
2 Berichten zufolge bejubelten bis zu 3.000 Schaulustige die Ereignisse. Die Frankfurter Rundschau beschreibt die damalige Feierstimmung wie folgt: „Als sie sich zu Tausenden draußen zusammenrotteten, sorgte der Imbiss „Happi Happi bei Api“ für Stärkung mit Bratwurst und Bier. (…) Das Flüchtlingswohnheim brennt. Seit mehr als anderthalb Stunden ist kein Ordnungshüter in Sicht. Am Supermarkt steht ein junger Dicker. „Das ist ja hier wie ein Volksfest“, meint er. Ein Rechter sei er, aber nicht radikal. Das hier findet er trotzdem gut. Alles sei locker, fast entspannt. Das Haus brennt weiter, als hätte es nie eine Feuerwehr in Deutschland gegeben“
3 Vgl. Kea Tielemann (1993): „Die Erfassung rechtsextremistischer Straftaten – Wirrwarr auf ganzer Linie“ in CILIP Nr. 44 auch online unter https://www.cilip.de/1993/02/22/die-erfassung-rechtsextremistischer-straftaten-wirrwarr-auf-ganzer-linie/#fn9 . Die Zahl von 29 Brand- und Sprengstoffanschläge mit „fremdenfeindlichem Hintergrund“ stammt laut dem Artikel aus einer Presseerklärung des bayerischen Staatsministeriums des Innern vom 6.1.1993. Ob es eine Dunkelziffer gibt und wie hoch diese ist, können wir nicht benennen. Da der Richter den Anschlag von Kolbermoor nicht als politische Tat wertete, wissen wir aktuell auch nicht, ob dieser unter den 29 Anschlägen erfasst ist oder nicht.
4 Zuvor, am 06. September 1992 gab es in Engelsberg (Landkreis Traunstein) bereits einen „Brandanschlag auf ein Asylbewerberheim“, bei welchem drei Bewohner:innen verletzt wurden. Vgl. taz (1992): Rassistische Anschläge (Auflistung vom 21.8.1992 – 11.11.1992), https://taz.de/Rassistische-Anschlaege-Auslistung-vom-2181992—11111992/!1643405/
5 Vgl. OVB (16.10.1992): Zwei Mutmaßliche Täter in Untersuchungshaft.
6 Die Täter verwendeten Wasserleitungsrohre aus dem Baummarkt.
7 Vgl. OVB (01.04.1993): Bewährungsstrafen für junge Täter.
8 Nach den Kommunalwahlen 2020 verfügen die extrem rechten Republikaner bayernweit nur noch über Mandate im Landkreis Dillingen an der Donau, in der der Stadt Forchheim und in der Stadt Rosenheim.
9 Wahlergebnisse.info (Jahr unbekannt, vermutlich 2019): Ergebnisse der Europawahlen in den Wahlkreisen, S.16 und S.20. Einsehbar unter: https://www.wahlergebnisse.info/pdf/4000.pdf
Liederabend mit Katharina und Steffen aus dem antifaschistischen Chor PIR-MOLL
Di, 06.09.22: „Lieder des Widerstands“
Zu allen Zeiten haben Menschen ihre Ideen, ihre Geschichten, ihr Leid, ihre Hoffnungen in Liedern verewigt, und sie spendeten in dunklen Zeiten Kraft und Mut. Diese Menschen und ihre Ideale sollen an diesem Abend erinnert und ihre Lieder gesungen werden. Ein Duo des antifaschistischen Chors PIR-MOLL aus Pirna wird das Rosenheimer Publikum am 6. September auf eine musikalische Reise durch die Zeiten und Orte mitnehmen, an denen Menschen im Widerstandskampf aktiv waren oder verfolgt wurden.
PIR-MOLL entstand 2017. Die ersten Stücke waren Lieder aus der Zeit des Nationalsozialismus und des Faschismus in Europa. „Bei der Auswahl der Lieder versuchen wir, auch eine Verbindung zu unseren eigenen Kämpfen zu schaffen. Deswegen hat sich das Repertoire immer wieder erweitert, entsprechend der Themen, für die wir brennen: Lieder für Freiheit, antirassistische Lieder, solche über Gleichberechtigung und Ungleichheit, antifaschistische jiddische Lieder, Lieder aus Revolutionen, feministische Lieder, Lieder über Gefangenschaft, Streik und den Kampf für eine gerechte Welt …“ schreiben die Musiker:innen auf ihrer Internetseite.
Bei dem von der Geschichtswerkstatt Rosenheim organisierten historisch-politischen Liederabend werden nicht nur die Lieder gesungen, sondern kurz ihre Entstehungsgeschichten und Autor:innen vorgestellt. Ab 18 Uhr öffnet das Z – linkes Zentrum (Innstr 45a, Rosenheim) für eine Sokü (Essen gegen Spende), der Liederabend (Eintritt frei – Hutspenden an die Musiker:innen erwünscht) beginnt dann um 19:30 Uhr. Weitere Informationen zu dem Projekt PIR-MOLL gibt es im Internet unter: https://www.pir-moll.de